ERICH SIDLER hat kürzlich seinen Vertrag als Intendant am Deutschen Theater Göttingen um sieben Jahre bis 2029 verlängert und in Zeiten von Pandemie, Energiekrise und Unsicherheiten in der Theaterlandschaft ein starkes Zeichen für die Zukunft gesetzt. Im FÜNFZIG+ life-Interview sprachen wir mit ihm über Vergangenes, Aktuelles und Zukünftiges.
Der Deutsche Bühnenverein und die Gewerkschaften haben sich auf neue Mindestgagen für Solobeschäftigte und das Bühnenpersonal geeinigt. Doch nun zieht das Land Niedersachsen bei der Finanzierung des Mehrbetrags nicht mit. Und die Energiekosten steigen auch. Wenn die Gelder fehlen: Gibt es bald Theater in Niedersachsen nur noch als Magerkost?
ES | Die Gefahr besteht. Unser Problem ist hauptsächlich, dass das Land die Tarifsteigerungen nicht übernehmen will. Das Land will eine feste Summe Geld zuwenden und dafür diese und jene Leistung haben. Es ist wie ein Auftrag, der vergeben wird. Wir sind aber der Meinung, dass so ein Haus wie unseres überregionale Bedeutung hat. Und dass dieses Haus Teil der Kultur des Landes Niedersachsen ist und nicht nur der Stadt Göttingen und des Landkreises. Eine Bekenntnis des Landes dazu würde bedeuten, dass die Tarife übernommen werden. Wenn das Land jetzt ausschert und die Theater weiter nur mit einem unzureichenden festen Betrag unterstützt, dann geht das Land aus der Verantwortung für die Kultur. Dabei könnte die Tarifübernahme ein kraftvolles, sichtbares Zeichen für die Kultur des Landes setzen

Für Darsteller ist die Schauspielerei durch die Pandemie zu einer großen Herausforderung geworden. Nun sollen neue Tarife Entlastung bringen, doch die Unsicherheit angesichts der offenen Finanzierung bleibt. Wie nehmen Sie die Situation in der täglichen Arbeit wahr?
ES | Viele machen sich Sorgen. Es gibt Schauspielerinnen und Schauspieler, die Familie haben. Früher war das Theater starken Fluktuationen unterlegen. Wenn Kinder und Familie da sind, werden andere Fragen wichtig. Und gerade was die Zukunft angeht, sind viele Schauspielerinnen und Schauspieler verunsichert. Aber eine gewisse Unsicherheit ist ein Grundtenor in diesem Beruf. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Sie führt dazu, dass wir in das Jetzt investiert und man nicht versucht, die Zukunft zu planen. Der Versuch, im Jetzt zu sein, kann Kräfte mobilisieren und Ausdrucksformen für den künstlerischen Betrieb kreieren. Außerdem ist der Beruf des Schauspielenden sehr vielfältig und wird immer irgendwo Verwendung finden. Man merkt, dass der Beruf sich verändert und breiter wird. Es ist nicht nur das Ausarbeiten von Figuren, die man dann auf der Bühne oder im Film präsentiert. Die Fähigkeiten, die wir entwickeln, nutzen wir zum Beispiel bei uns auch im Kinder- und Jugendtheater, und verstehen Erzählkunst als Teil des Bildungswesens. Das ist wichtig für die Zukunftsperspektive des Berufs. Dass es ein Ensemble am DT gibt, das hier fest vor Ort ist, gibt Freiraum für Reflexion. Über die Stadt und die Menschen dieser Stadt und dieses Landkreises. Ich glaube schon, dass es anders aussehen würde, wenn man Leute hätte, die nur für eine Produktion kommen und dann wieder gehen.
Sie hatten als Intendant die Aufgabe, inmitten von Corona, Krieg und Energiekrise Produktionen für einen neuen Spielplan zusammenzustellen: Was spielte für Sie dabei eine Rolle?
ES | Die Frage, welches Stück und welcher Stoff auf die Bühne kommt, ist immer konnotiert mit der Frage, wie wir die Welt im Moment erleben, wie wir Göttingen erleben, was die Menschen umtreibt, was sie verunsichert, wo ihre Ängste, Nöte sind, wo ihre Freuden sind und welche positiven Zukunftsvisionen sie haben. Letztlich ist immer die Frage relevant: Was ist gerade jetzt wichtig? Wir haben uns entschieden: Nach dieser Corona-Verunsicherung wollen wir beispielsweise in einem etwas breiteren Angebot das Musical „Cabaret“ zeigen, weil in „Cabaret“ sichtbar wird, wie Menschen überleben wollen. Wie sie alles auf eine Karte setzen und versuchen, sich gegen die Unwirtlichkeit der Umwelt zu stemmen. Wir haben im Moment eine Fülle an Verunsicherung. Es ist ja beispiellos, was gerade in der Welt passiert. Natürlich müssen wir das auf der Bühne verarbeiten. Und dazu ist „Cabaret“ ein interessanter Stoff. Sie feiern und singen ja im Grunde genommen gegen diese Gleichschaltung der Nazis, die in den 30er Jahren aus allen Ritzen kriechen und versuchen, alle Bereiche des Lebens auf ein Ziel auszurichten. Es ist eine Begegnung mit roher Gewalt. Das Individuum soll nicht mehr sichtbar sein, sondern nur der Volkskörper. Das hat etwas sehr Übergriffiges. Das ist sehr vergleichbar mit dem, was wir hier erleben. Diese Kriegstreiberei finde ich extrem kompromittierend. Die Kriegstreiber im Kreml nehmen Besitz von einem Teil meines Lebens, und das steht ihnen nicht zu. Das kommt in „Cabaret“ auch so vor.

(FOTO: Carsten Hoffmann)
Krisen und ihre Bewältigung haben in der Vergangenheit vielfach große Kunst hervorgebracht. Wenn man in zwanzig Jahren auf die Krisen dieses Jahrzehnts blickt, wird ein Stück wie z. B. Cabaret weiterhin aktuell sein?
ES | Ganz sicher wird es Neues geben. Tatsache ist aber auch, dass „Cabaret“ eine Ausnahmeerscheinung ist, weil es dramaturgisch ein gutes Stück ist. Mit einer sehr guten Konstellation, guten Figuren und gleichzeitig mit unfassbar guter Musik. Und das ist natürlich ein Glücksfall für die Geschichte, genauso wie „Die Räuber“. [von Schiller, Anm. d. Red.] Natürlich versucht man immer wieder, mit diesen sehr, sehr guten Vorlagen etwas über das Heute auszusagen. Wobei manchmal eine Vorlage aus einer anderen Zeit eine gute Distanz schafft. In „Cabaret“ kommen nicht der Kreml und die Ukraine vor. Aber diese Folie, die uns dieses Stück gibt – von archaischen und ganz intensiven Gefühlen, über Freude, aber auch Angst – die lassen sich heute mit anderen ProtagonistInnen ganz genauso erleben. Das hat etwas sehr Verbindendes, wenn wir in diesem Theaterraum sitzen und merken, dass wir die Freuden und die Ängste teilen.
Im vergangenen Jahr wurde die Theaterlandschaft von mehreren Skandalen zum Thema Machtmissbrauch und Diskriminierung erschüttert. Wie schätzen Sie die Situation ein und wie reagiert das DT darauf?
ES | Der Eindruck ist entstanden, dass das Theater völlig verseucht ist, dass überall am Theater Missbrauch stattfindet. So desolat ist es nicht. Und trotzdem: Das Thema muss in das tägliche Arbeiten einfließen – und zwar nicht nur am Theater. Das Sensorium muss zu einer Selbstverständlichkeit werden, zu einer Voraussetzung für eine Begegnung an sich. Ich glaube, dass wir auf einem guten und richtigen Weg sind, die Menschen zu ermutigen und sie darin zu bestärken, ihren Lebensraum für sich diskriminierungsfrei zu halten.
Am Deutschen Theater Göttingen treffen wir uns beispielsweise einmal im Jahr zu einem bewegten Begegnungstag, an dem wir uns überlegen, wie wir zusammenarbeiten wollen. Es geht letztlich darum, jeder Kollegin und jedem Kollegen die Befähigung in die Hand zu geben, auch einem Abteilungsleiter sagen zu können: „So möchte ich nicht arbeiten.“
Auch den Regisseurinnen und Regisseuren, die hierherkommen, sagen wir, dass alle verantwortungsvoll mit ihrer Kompetenz umgehen müssen und wir keinen Machtmissbrauch erleben wollen. Das bedeutet aber genauso, dass wir im Leitungsbereich offen dafür sind, falls sich jemand ungleich behandelt sieht. Im Vordergrund steht in der momentanen Diskussion doch immer nur die Rache oder die vermeintliche Gerechtigkeit, wenn der Täter bestraft wird. Letztlich ist aber für das langfristige und nachhaltige Zusammenarbeiten ebenso wichtig, dass wir uns immer wieder gewahr werden darüber, wie wir miteinander umgehen und welches Sensorium wir anwenden.
Wobei ich bei einigen aktuellen Fragen im Theater wirklich Probleme sehe: Wenn zum Beispiel Shakespeares Sommernachtstraum nicht mehr gespielt werden sollte, weil dort eine Frau mit K.o.-Tropfen abgefüllt wird und dann mit einem Esel Verkehr hat. Wenn wir nicht mehr die Fähigkeit entwickeln, die künstlerische Überhöhung in einer mystischen Geschichte zu sehen, dann reduziert das grundsätzlich die Rezeption von Kunst, weil alles auf die Ratio und das Gegenwärtige reduziert wird, was dann zwar eine politische Correctness besitzt, letztlich auf der Bühne aber nicht mehr interessant ist.
Apropos interessant: Man könnte bei Stückauswahl und Inszenierung allein auf Bewährtes und Bekanntes setzen. Warum ist aber gerade die Reise ins Unbekannte für ein Theater so (über-)lebenswichtig?
ES | Wenn wir das Publikum einfach damit bedienen, was es sehen will, wird das ein oder zwei Spielzeiten gut gehen und dann wird es einfach langweilig. Ich glaube schon, dass das Publikum explizit oder implizit von uns erwartet, dass es mit einer Sichtweise konfrontiert wird, die es so vorher nicht gekannt hat. Eine Begegnung mit Neuem. Mit dem Staunen und dem Zweifeln beginnen wir, über unser Leben nachzudenken. Insofern ist es einfach wichtig, dass wir einen Raum kreieren, in dem Zweifel sein darf, ohne dass er uns bedroht. Und dass Staunen ohne Sinn und Zweck erstmal als Staunen stattfinden darf. Das sind Momente, die uns immer wieder sehr stark zu uns zurückführen.
Wenn sie Erwartungen haben, und sie sehen, dass wir versucht haben, ihren Erwartungen gerecht zu werden, es aber nicht geschafft haben – dann haben wir eine Lose-Lose-Situation. Wenn wir es schaffen, ihre Erwartungen mit etwas zu konfrontieren, was sie so noch nicht gesehen haben, was einen neuen Raum aufmacht, dann gewinnen beide. Und das ist gutes Theater.
Welche Stücke in der neuen Spielzeit des DT greifen das Element der Konfrontation Ihrer Meinung nach am eindrucksvollsten auf?
ES | Da wäre zum einen das Stück „Jeeps“, mit dem wir die Spielzeit eröffnet haben. Es geht um eine Erbrechtsreform. In einer Welt, in der Christian Lindner Bundeskanzler geworden ist, werden die Erbschaften verlost. Es wird also nicht mehr an Kinder vererbt, sondern an irgendjemanden, der sich ein Los bei der Agentur für Arbeit gekauft hat, damit eine Chancengleichheit wiederhergestellt wird. Dabei kriegen alle ihr Fett weg. Nicht nur Verwaltungsangestellte, sondern auch Menschen, die behaupten zu wissen, was Gerechtigkeit ist. Aber wie viel Chancengleichheit schaffen wir, und was ist das überhaupt? Wenn eine Gesellschaft nachhaltig und langfristig erfolgreich sein will, muss sie sich diese Frage stellen. Dass dieser Anspruch genau dann scheitert, wenn wir es in ein Modell wie eine Erbschaftsreform übertragen, dann ist das ein sehr interessanter Ansatz. Auch, weil wir etwas durchspielen, was man in der Wirklichkeit nicht machen kann, was dann im Theater aber zu sehr heiteren, grotesken und absurden Situationen führt.
Dazu kommt „Bombe!“, eine Komödie von Abdul Abbasi und Philipp Löhle. Das Stück ist ein Spielraum, der aufdeckt, wie Menschen Vorurteile voneinander generieren. Dieses Wechselspiel von Vorurteilen kann unter bestimmten Umständen zu viel Heiterkeit führen.
Im dt.2 zeigen wir zum Beispiel „Fragmente der Zärtlichkeit“ von Edouard Louis. Wir machen viel Literatur aus dem Glauben daran, dass Literatur, Sprache und Poesie in einer Situation von Fassungslosigkeit, wie wir sie im Moment haben, auch einen Kompass darstellen und uns in unserem Menschsein bestärken können. Interessant wird auch Brechts „Im Dickicht der Städte“. Ein Stück, das sich sehr stark mit der Frage auseinandersetzt, wie Menschen miteinander Kontakt aufnehmen. Das fokussiert Brecht in einem Boxkampf als eine spezifische, intensive Form der gegenseitigen Wahrnehmung. Wo eigentlich Gewalt ist, ist gleichzeitig auch Nähe.
Zu Beginn der Corona-Pandemie wurde vielerorts in der Theaterlandschaft mit neuen Formaten und Ideen experimentiert, wie man sein Publikum trotz aller Beschränkungen dennoch erreichen kann. Was ist nun, im dritten Jahr der Pandemie, noch davon übrig?
ES | Wir haben in den letzten zwei Jahren die Frage untersucht, inwiefern die Ideen mit Internetübertragungen, mit technischen Hilfsmitteln wie Smartphones und Cyberspace und mit VR-Brillen unsere Perspektive in der darstellenden Kunst erweitern. Das Ergebnis hat mich etwas ernüchtert, muss ich sagen. Es hat mich wieder dazu geführt, zurückzugehen zu dem, was letztlich Theater ausmacht, und das sind die Begegnungen von Menschen, die versuchen, eine Kommunikation, ein Gespräch, eine Idee, eine Vision zu entwickeln, gegenseitig und miteinander. Das ist für mich das Zentrum, das im Theater immer bleibt. Es gibt einfach nichts Spannenderes als eine Begegnung mit einem anderen Menschen. Social Media bietet jederzeit die Möglichkeit, einfach auszusteigen. Wir können uns mit Wischen für dies oder jenes entscheiden. Im Vergleich merkt man schnell, dass eine analoge Begegnung zwischen Menschen immer auch die Kompetenz erfordert, auf ganz viele Aspekte des Gegenübers zu reagieren. Ein Mensch, der dasitzt, sendet ganz viele feine Zeichen, ob er gerade zuhört, ob er einverstanden ist, mit dem, was ich sage, ob er mich sympathisch findet etc. Diese Interaktion in der analogen Begegnung ist wahnsinnig vielfältig und sehr erlebnisreich. Sie ist komplex und baut auf Verbindlichkeit. Ich kann nicht einfach aufstehen und gehen. Wir haben eine Vereinbarung getroffen, dass wir versuchen, einem Gedanken nachzugehen. Das ist manchmal auch anstrengend, weil andere anderer Meinung sind oder weil wir nicht miteinander kommunizieren können. Es gibt ganz viele Hindernisse. Es gibt in diesem Erleben dieser Begegnung so viele Aspekte, auf die ich ständig und gerade im Moment reagiere und die mich fordern.
Wie sehr wird sich in zehn oder zwanzig Jahren dieser Ort der Begegnung verändert haben?
ES | Ich denke, dass dieses Haus noch stärker ein Ort sein kann, der kontinuierlich belebt ist. Wo ich teilnehmen, mich einklinken und partizipieren kann. An dem ich einfach „sein“ kann. Dahinter steckt der Begriff des „dritten Ortes“. Das ist ein Begriff, der künftig gerade für Räume wie das Theater eine große Rolle spielen wird. Der erste Ort ist mein Zuhause, der zweite der Arbeitsort. Ein dritter Ort zu sein, ist städtebaulich, kulturell, politisch ein ganz wichtiger Aspekt, weil wir uns als Gesellschaft begegnen und uns austauschen müssen. In unserem Begegnungsraum verfolgen wir beispielsweise auch diskursive Konzepte, reden über die Wahlen, das Klima oder Antisemitismus. Das sind Bereiche, wo wir als Gesellschaft Vereinbarungen treffen, was uns wichtig ist und wie wir künftig leben wollen. Diese Vereinbarung braucht Räume, Orte und Strukturen. Und wenn wir die nicht pflegen und nicht ausbauen, dann kommen wir früher oder später an den Punkt, an dem Amerika seit 10 oder 15 Jahren schon steht, wo überhaupt nicht mehr diskutiert wird, sondern einfach zwei Blöcke bestehen. Das hängt aber auch damit zusammen, dass in Amerika die Kultur ökonomisiert ist. Die Kultur, die wir hier in Deutschland haben, ist eine Kultur, die sich die Gesellschaft leistet. Sie ist frei, offen, nicht kontaminiert, nicht bestimmt. Und ich glaube, Demokratie braucht nicht nur die Urne und das Bekenntnis zum freien Wort und zur freien Meinung, sondern es braucht auch die Orte, wo das gepflegt wird. Wie das Theater.