In den unzähligen Fitnessstudios tummeln sich heutzutage nicht nur junge Leute. Doch während Millenials und Jungspunde der Generation Z sehr um ihre Figur bemüht sind, haben viele Generation Xler und Babyboomer längst mit den negativen Folgen von Beruf und Alltag auf den eigenen Körper zu kämpfen. Chronische Schmerzen zu lindern, haben schon viele Fitnessgurus und Therapeuten versprochen. Ein Programm aus den USA war für den Göttinger Personal Coach Justus Hirt jedoch so überzeugend, dass er es nun selbst gerade auch bei seinen älteren Kunden erfolgreich anwendet.
„Sind sie ein Mensch, dann ist FP etwas für sie.“ So steht es auf der Webseite des Erfinders des revolutionären Trainingsprogramms Functional Patterns (kurz: FP) Naudi Aguilar. Die Aussage des US-Amerikaners klingt erst mal recht pauschal. Doch im Kern trifft dieser Satz im wahrsten Sinne einen Nerv. Schließlich geht es um nichts Geringeres als die menschliche Evolution.

Zunächst einmal ist das Trainingskonzept von Functional Patterns ein weiterer Versuch im Dunstkreis der Fitnessindustrie, Menschen davon zu überzeugen, etwas für ihren Körper, ihre Gesundheit und ihre Fitness zu tun, und – natürlich – auch Geld dafür auszugeben. Es gibt auf dem Markt eine Vielzahl von unterschiedlichsten Methoden und Konzepten, die sich dank Internet und Social Media in Windeseile verbreiten lassen. Man bekommt den Eindruck, dass in der Branche täglich etwas Neues aufs Tablett kommt. Allen persuasiven Versprechungen zum Trotz ist manches mehr und vieles weniger dafür geeignet, uns stärker, schöner oder resilienter zu machen. Die Effektivität solcher Programme hängt neben ihrer therapeutischen Ausgereiftheit allerdings immer auch vom Probanden selbst ab, weshalb häufig verallgemeinernde Aussagen über die Erfolgsaussichten dieses oder jenes Programms mit Vorsicht zu genießen sind. Die Ernährungsbranche mit ihren Diäten lässt grüßen.
Traditionelle Fitnesstrainings auf Links gedreht
Das Grundkonzept des FP-Trainings stellte bei seiner Erstveröffentlichung 2009 vieles auf den Kopf, was zum damaligen Zeitpunkt Usus war. Aber das macht innovatives und revolutionäres Denken ja auch irgendwie aus. Schaute man sich damals wie heute in einem beliebigen Fitnessstudio um, dann gehören unter anderem Fahrrad-Ergometer, Hantelscheiben und unzählige Geräte für Schulter, Arme oder Beine weiterhin zum Standardinventar. In Trainingsplänen von Functional Patterns sucht man jedoch all diese Geräte vergeblich. Das Programm orientiert sich vielmehr an der evolutionären Biomechanik des menschlichen Körpers. Wofür ist unser Körper gemacht? Wie hat die Evolution ihn weiterentwickelt? Was unterscheidet uns im Wesentlichen von unseren direkten Vorfahren, den Affen?
„Stehen, gehen, laufen und werfen“, antwortet Justus Hirt, einer der wenigen Func-
tional Patterns Coaches in Deutschland und einer von knapp 500 weltweit. „Auf diese vier Grundfunktionen hat sich unser Körper im Laufe der Zeit angepasst.“
Auch wenn es gleich mehrere Hypothesen gibt, wie Vormenschen überhaupt zum aufrechten Gang gekommen sind, hat es doch immer etwas mit der Anpassung an die Umwelt zu tun. Und da scheint, Gewichte zu stemmen, wahrlich nicht hineinzupassen. Dafür wird bei FP viel mit Rotation gearbeitet und sich kontralateral bewegt, also gegenseitig wie beim Gehen.
Nicht sexy, sondern gesund
Traditionelles Fitness- und Krafttraining mit dem Functional Patterns Konzept zu vergleichen, hinkt an einer Stelle ganz besonders: In erster Linie geht es den Menschen, die im Fitnessstudio herkömmliche Geräte verwenden und Übungen machen nicht um die Verletzungsprävention oder die Stabilisierung des Körpers – was hingegen wiederum Prämisse im Rehatraining ist. Vielmehr geht es doch genau genommen darum, schlanker, definierter und kräftiger auszusehen. Also alles eine Frage der Optik. Auch wenn Fortpflanzung und Evolution mitunter auch optische Hintergründe haben, würde die Menschheit sicher nicht mehr existieren, wenn sie in grauer Vorzeit nur hübsch ausgesehen hätte.
Dieser Ansatz mache das FP-Training für viele zu Beginn „unsexy“, sagt Justus Hirt. Schließlich ginge es nicht primär um einen prallen Bizeps oder knackige Gesäßmuskeln, sondern um einen gesunden Körperbau. Das mag jüngeren Trainierenden noch nicht wie ein Luxusgut vorkommen. Aber gerade älteren Sporttreibenden dürfte hier und da schon schmerzhaft bewusst geworden sein, warum er für das tägliche Leben so wertvoll ist. Dennoch spielen Muskelwachstum und Ästhetik auch bei den Functional Patterns eine Rolle – allerdings alles unter dem Deckmantel von Funktionalität. Eine gute Mechanik ist automatisch attraktiv, da dadurch Symmetrie entsteht.
Resilienz bleibt trotz allem aber Kernaspekt des Konzepts. Das bedeutet: nachhaltige Vermeidung von Verletzungen, Entgegenwirken von Verschleiß ausgelöst durch die heutige Lebens- und Arbeitsweise und Linderung von chronischen Schmerzen. Deshalb werden in erster Linie Faszien und Nervensystem trainiert und nicht die Muskeln. Myofasziale Entspannung, Haltungskorrektur und mehr Dynamik in den Bewegungen sind die avisierten Meilensteine eines FP-Trainings.
Viel Lehre – viel Leere
Der Biomechanik-Experte Justus Hirt hatte nach dem Sportstudium und den vielen Fortbildungen im therapeutischen Bereich nie das Gefühl, dass er bei den Patienten nachhaltig Probleme lösen konnte, sondern es immer nur um Symptome ging. Über einen Online-Kurs während des Corona-Lockdowns fand er den Einstieg in das System der Functional Patterns. Es folgte eine Kursteilnahme in Finnland sowie ein einwöchiger Lehrgang in Las Vegas. „In dieser Woche habe ich mehr über den Körper gelernt als im Studium oder der Ausbildung“, erklärt Hirt.
So ganz „für die Katz“ waren die Investitionen in die Lehre trotzdem nicht, wie der Göttinger erzählt. „So weiß ich, welche Phasen vor allem die Patienten mit starken gesundheitlichen Einschränkungen durchlaufen haben, bevor sie zu mir kommen, ohne dass ihnen trotz Versprechungen der Schulmedizin bisher wirklich geholfen werden konnte. Ich habe als Bodybuilder und Kraftsportler mit 18, 19 immer wieder Verletzungen gehabt. Ich habe also selbst erfahren, wie das ist.“
Am Anfang steht die Analyse
Vor dem eigentlichen Trainingsauftakt steht bei FP-Coach Justus Hirt eine Gang- und Bewegungsanalyse ganz oben auf der Agenda. Zunächst werden Bilder der Wirbelsäule gemacht, auch um später einen Vorher-Nachher-Vergleich machen zu können. Anschließend stellt er seine Patienten auf ein gebogenes Laufband, das nicht elektrisch, sondern allein mit Muskelkraft angetrieben wird, und filmt die Bewegungen. Dort sollen sie dann mit Maximalkraft laufen. Warum so schnell? „Weil man bei der maximalen Geschwindigkeit nicht schummeln kann“, sagt der Trainer schmunzelnd und ergänzt: „Außerdem schauen wir auf das gesamte System. Es wird nichts isoliert betrachtet.“
Der Film wird mit Lauf-Legenden wie Usain Bolt und Carl Lewis oder auch dem Ex-NFL-Football-Spieler Barry Sanders verglichen. Und dann geht Hirt an die Arbeit und die beginnt nicht selten mit einem Schock für den Patienten.
Drastische Schritte
„Wenn die Bremsen am Auto kaputt sind, sollte man auch nicht mehr Gas geben, sondern den Wagen stehen oder reparieren lassen. Genauso ist es mit dem Körper.“ Es sei also falsch, bei gesundheitlichen Beschwerden nicht auf den Körper zu hören. Überlastungen oder Kompensationsbewegungen zur Schmerzvermeidung sind dann vorprogrammiert. Und die machen alles nur noch schlimmer.
„Wenn jemand Schulterprobleme durch das Tennisspielen hat, sage ich ihm unverblümt, dass er sofort damit aufhören muss.“ Später könne man wieder mit dem Lieblingssport anfangen, so Hirt weiter, aber erst, wenn der Körperbau korrigiert und auch dafür ausgelegt sei.
Justus Hirt betreut bis zu sechs Patienten täglich, über mindestens vier Monate hinweg und stets in Einzelarbeit. Die Gruppenarbeit hält der Göttinger für weniger effizient, da die Aufmerksamkeit für Fehler in Haltung und Bewegungsausführung unter mehreren Teilnehmern aufgeteilt werden müsste. Hinsichtlich des Alters, der sportlichen Vorerfahrung und des Gesundheitszustandes hat Hirt bereits eine große Bandbreite betreut. „Von jung bis alt, von Profisportler bis hin zu komplett ‚kaputtem‘ Körper. Frauen fangen früher an, ein anderes Bewusstsein für ihren Körper zu entwickeln, z. B. durch eine Schwangerschaft. Bei Männern kommt die Einsicht, etwas tun zu müssen, meist erst später.“
Normalerweise kommen seine Patienten ein bis zwei Mal pro Woche in seinen Göttinger Trainingsraum, dazu gibt es aber auch wichtige Hausaufgaben, die viel Eigeninitiative voraussetzen. Dennoch haben bisher nur ganze wenige das Training von Justus Hirt vorzeitig abgebrochen. Ein Grund: „Weil man stellenweise schon nach einer Session Haltungsverbesserungen sehen kann.“
Wie bei vielen Fitnessprogrammen werden Erfolgsstorys – gerade über das Internet – gerne angezweifelt oder wissenschaftliche Beweise gefordert. Functional Patterns Coaches überall auf der Welt versuchen daher, vor allem über Vorher-Nachher-Videos einen visuellen Beleg für die Sinnhaftigkeit des Konzepts zu liefern. Beeindruckend ist es allemal, wenn sogar Menschen mit Parkinson über das FP-Training deutlich mehr Lebensqualität erhalten. Was das Programm tatsächlich für einen tun kann und was nicht, kann aber nur jeder selbst herausfinden. Zum Beispiel bei Justus Hirt.
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