„Was mich antreibt? Es ist ein ganz starker innerer Zwang, bei dem es immer um den schöpferischen Prozess und den Wandel geht. Ich komme dadurch in einen Flow, in dem ich mich verliere“, beschreibt es die 57-Jährige. „Wenn man seine Erfahrungen und Gelerntes aufsaugt und in die Werke fließen lässt, malt man intuitiv, dann will es aus einem heraus.“
Erst vor zwei Jahren hat sie angefangen, sich ausschließlich der freien Kunst zu widmen. Zwar gehörte das Malen schon immer zu ihrem Leben, doch steckte ihre Leidenschaft hinter ihrem Beruf als freie Grafik-Designerin zurück „Doch dann kam ich an einen Punkt, an dem ich merkte, dass ich statt mit Tastatur und Monitor lieber mit einem Pinsel und echter Farbe etwas schaffen will. Und da fiel mir zum ersten Mal der Karton in meinem Arbeitszimmer bewusst ins Auge.“ Sie schnitzte Furchen in die Wellpappe, goss Farbe darauf: sie lässt sie fließen, lässt los, greift ein, ändert die Flussrichtung, lässt wieder fließen. „Beim Fließprozess wurde mir bewusst, dass ich loslassen muss – und dann wird es gut.“
Während der Corona-Pandemie, als ein gemeinsamer Café-Besuch unerreichbar schien, malte Wilhelm-Hirr Porträts von vereinzelten Frauen und nannte die Serie ‚Sehnsuchtsort Café‘. Und in einer Phase, in der sie viel Kaffee trank, malte sie auf Filtertüten. So wandelt sich mit ihrem Leben auch ihre Kunst. Jetzt hat sie stärkere und großformatigere Wabenpappe für sich entdeckt, die in ihrer Tiefe dreidimensionale Motive ermöglicht. „Ich werde mutiger und kompromissloser. Jetzt bin ich endlich in einem Alter, in dem ich mir die Freiheit nehme, das zu tun, was ich schon immer tun wollte. Und ich weiß, alles wird gut.“
„Was mich antreibt? Ich bin immer unter Volldampf, brauche Begeisterung, Leidenschaft, Inspiration und Toleranz ohne Ende. Außerdem macht Erfolg süchtig“, sagt Steuer (geb. 1943), der schon viele Räume mit seinen Werken „erobert“ hat: in Göttingen beispielsweise am Primatenzentrum, am Weender Krankenhaus, das neueste ist die Händel-Skulptur am Deutschen Theater, und auch in Göttinger Partnerstädten. Es sind flache Umrisse von Figuren, z. B. stehende, die aus ihrer Platte hervortreten oder mehrere, die in einer leichtfüßigen, eleganten Bewegung verharren. Aus jedem Blickwinkel entdeckt man eine andere dreidimensionale Lebendigkeit.
Das Material Stahl ziert er mit Vorliebe mit Blattgold, „da bin ich Serientäter“, gesteht der Künstler. Zu seinen Gestaltungselementen gehören auch der Rost, den er mit Salzbehandlung forciert, sowie das Einbrennen von Farbe. Die Elemente brennt er entweder klassisch aus oder lasert sie in einer Fach-Werkstatt. „Stahlarbeiten sind Knochenarbeit. Deshalb male ich zwischendurch immer wieder Bilder“. Seine Mal-Techniken wechseln, Farbstiftzeichnungen sind ebenso darunter wie Ölbilder und Experimente mit anderen Materialien, er verleiht den gegenständlichen und abstrakten Motiven unterschiedlichste Strukturen und Effekte. Aktuell brennt er ästhetische Muster aus einer Leinwand aus und unterlegt sie farbig, für die kommende Ausstellung hat er überdimensional große Streichhölzer gestaltet. Und in seinen Skizzenbüchern sammelt er Zeit seines Lebens Ideen, die nicht ausgehen wollen. „Als ich jetzt bei der Banksy-Ausstellung in Hamburg war, hat es wieder Klick klick klick in meinem Kopf gemacht“, erzählt er. Und so arbeitet er jeden Tag in seinem Atelier und lässt seiner Kreativität freien Lauf.
Und das Schöne ist, dass jeder die Kunst von Iris Wilhelm-Hirr und Frank-Helge Steuer (er)leben kann! Denn im Gegensatz zu den musealen Alten Meistern und Jungen Wilden wirken sie hier in der Region, mitten unter uns. Die Kunst – sie will raus!
Fotos: © Iris Wilhelm-Hirr, Frank-Helge Steuer
Erschienen in: FÜNFZIG+ life – Ausgabe 02/2022