Töchter einer neuen Zeit und die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Wandels
Eine Geschichte von vier Frauen und ihren Familien über drei Generationen begeisterte seit Erscheinen des ersten Bandes 2016 ganz Deutschland. In ihrer Trilogie um die Hamburger Hebamme Henny Godhusen arbeitet die Autorin Carmen Korn fast ein ganzes Jahrhundert auf. Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Millenium ruft sie uns die bedeutenden Ereignisse der Vergangenheit in Erinnerung, die jeweils mit gravierenden Veränderungen verbunden waren. Heute ist ein Umbruch notwendiger denn je, doch die Gesellschaft scheint sich selbst im Weg zu stehen.
Zur Geschichte:
Die junge Henny Godhusen hat gerade den Ersten Weltkrieg erlebt, als sie 1919 in Hamburg eine Ausbildung zur Hebamme beginnt. Gemeinsam mit den Freundinnen Käthe, Ida und Lina, die unterschiedlicher nicht sein könnten, strebt sie nach Unabhängigkeit. Seite an Seite durchleben die vier Frauen ein ganzes Jahrhundert voller politischer Wirren, Leid und Glück.
Teil 1: Töchter einer neuen Zeit
Die junge Generation, zu der auch Henny Godhusen gehört, sehnt sich nach Frieden und Erneuerung. Nachdem Henny mit ihrer Freundin Käthe die Hebammenausbildung an der Hamburger Finkenau Klinik begonnen hat, lernt sie auch Ida kennen, deren Leben im feinen Alsterviertel so ganz anders ist als das der hart arbeitenden Frauen. Mit der ruhigen Lina, der Schwester ihres Mannes, zieht eine weitere enge Freundin in Hennys Leben ein. Jede erlebt den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Zerstörung ihrer Stadt auf ihre Weise und doch kreuzen sich ihre Wege immer wieder und lassen sie am Schicksal der anderen teilhaben.
Teil 2: Zeiten des Aufbruchs
Die 1950er Jahre sind auch in Hamburg vom Wiederaufbau geprägt. Den vier Frauen hat der Krieg zum Teil große Opfer abverlangt, doch nun können sie in Frieden und wachsendem Wohlstand ihre Kinder und Enkelkinder großziehen, während die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen an ihnen vorüberziehen und unterschiedlich großen Einfluss auf ihre Leben nehmen.

Teil 3: Zeitenwende
Eine dritte Generation ist herangewachsen und führt die Freundschaft der Großmütter fort. Die
Unruhen der 1970er Jahre, die Deutsche Wiedervereinigung und die Jahrtausendwende begleiten die Familien durch die Jahrzehnte.
Carmen Korn schildert in einem angenehmen, fast unaufgeregten Erzählstil das Leben im Hamburg des 20. Jahrhunderts und lässt uns an der Geschichte und dem Schicksal von vier Familien teilhaben, als wären es unsere eigenen. Sie nimmt dabei auch die großen Themen dieser Zeit auf und spinnt Homosexualität und Aids genauso in ihre Geschichte ein wie Terrorismus oder den Mauerfall.
Drei Jahrzehnte Krieg, Verfolgung und Verlust nehmen den Großteil des ersten Bandes ein.
„Töchter einer neuen Zeit“ lässt uns teilhaben am Schicksal der vier Frauen, ihrer Familien und einer ganzen Stadt und weckt die schmerzliche Erinnerung an eine Zeit, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Die Entbehrungen, die Menschen damals einfach hinnehmen mussten, die Verluste und das Leid waren nichts, dem man sich einfach entziehen konnte. Fast jeder war existentiellen Bedrohungen ausgesetzt und der kollektive Schrecken wirkte noch Jahrzehnte nach.
Dennoch war die damalige Generation in der Lage, das Schlimme hinter sich zu lassen und neu anzufangen, auch wenn das zum Teil mit Verdrängung und fehlender Aufarbeitung einherging.
Auch die Zeit nach dem Krieg war unbequem. Das zerstörte Land musste wieder aufgebaut werden, und während sich die Älteren über zunehmenden Wohlstand freuen konnten, begann die junge Generation, gesellschaftliche Strukturen aufzubrechen und sich zu emanzipieren. Sie zwang die Älteren hinzusehen. Auch dieser Prozess war mit Opfern verbunden und uferte stellenweise in furchtbare terroristische Gewalt aus.
Erst dann kamen die Menschen in Deutschland zur Ruhe. Im modernen Sozialstaat, einer gewachsenen Demokratie und fern von Kriegen und Unruhen konnte eine Generation heranwachsen, zu der auch ich gehöre und die so behütet und bequem ihre Ziele ausleben durfte wie keine vor ihr.
Ich habe die Trilogie von Carmen Koren während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 entdeckt. Die Bücher haben noch lange nachgewirkt und auch in den vergangenen Wochen kam mir immer wieder die Frage in den Sinn, ob unsere Gesellschaft in ihrer heutigen Zusammensetzung überhaupt noch in der Lage ist, eine kollektive Veränderung zu vollziehen. Die Notwendigkeit ist da, denn wie bisher können wir nicht mehr lange weitermachen. Das haben unsere Kinder längst erkannt. Mit Fridays for Future begann sich eine internationale, wachsende Bewegung zu formieren, deren berechtigte Forderungen man nicht mehr ignorieren konnte. Doch als sich gerade etwas zu bewegen schien, brachte das Coronavirus die Welt zum Stillstand und mit ihm vorerst einen am Anfang stehenden Erneuerungsprozess.
Ob und wie schnell dieser Prozess nach der Pandemie wieder an Fahrt gewinnen wird – man weiß es nicht. Zu sehr sind wir mit unseren eigenen Problemen beschäftigt. Die existenziellen Fragen um unsere Zukunft scheinen noch keinen allzu großen Einfluss auf unseren Alltag zu nehmen, es fehlt wohl einfach die Motivation zur nachhaltigen Veränderung. Und das ist in meinen Augen einer der großen Unterschiede zu den gesellschaftlichen Umbrüchen der Vergangenheit: Wir sind nicht unmittelbar dazu gezwungen, meinen, die Wahl zu haben, so wie wir sie in den vergangenen dreißig Jahren fast immer hatten. Doch das kann sich schon bald als fataler Irrtum herausstellen.
So gelassen die Wohlstandsgesellschaft die Bedrohungen durch Umweltzerstörung und Naturkatastrophen wahrzunehmen scheint, so aufgeregt befassen wir uns – nicht zuletzt befeuert durch mediale Überpräsenz – mit allem und jedem, vor allem mit uns selbst, nur nicht mit dem vielleicht einzig Wichtigen: dem Fortbestand unserer Existenz. Wie viel besser könnten wir uns fühlen, wenn wir dem Prinzip der Stoiker folgen würden. Das gelassene Hinnehmen der Dinge, die wir nicht ändern können, verleiht die notwendige Energie, sich für das einzusetzen, was wir mit unserem Verhalten und Engagement zu verändern durchaus in der Lage wären. Den Erhalt unseres Planeten, Gleichberechtigung und Toleranz. Unsere Kinder würden es uns danken. +
Titelfoto: Rowohlt