Von Trauersprachen und TrostHelden
„Sie sprechen nicht dieselbe Sprache“, erklärt Henrik Lind, der zusammen mit seiner Frau Jennifer ein Modell entwickelt hat, um zu visualisieren, warum sich die Kommunikation mit einem eigentlich vertrauten Menschen nach einem Trauerfall verändert. Und wieso plötzlich die Basis für heilende Gespräche fehlt. Sie nennen es das Trauersprachen-Modell.
Bei dem Modell handelt es sich nicht um ein aus reiner Theorie geborenes Konstrukt, sondern etwas, dass sich über Jahre der Trauerarbeit herauskristallisiert hat. Rund 7.000 Einzelgespräche hat das Ehepaar Lind seit 2013 in der Arbeit für und mit Trauernden geführt und schnell festgestellt, dass das soziale Umfeld für Trauergefühle meist nicht der passende Ansprechpartner ist.
Das Lindsche Modell lässt drei Ebenen erkennen, deren Schnittmenge die individuelle Trauersprache eines Menschen ergibt. Ein Blick darauf reicht, um zu begreifen, dass man z. B. als Partner in der Trauerbewältigung als emotionaler Rettungsanker schlichtweg ausscheidet. Die Ebenen sind: 1. Der Schicksalsschlag, 2. Die Lebensumstände und 3. der Umgang mit der Trauer.
Schicksalsschlag ist nicht gleich Schicksalsschlag
Der Tod eines Menschen ist immer mit ganz spezifischen Begleitumständen verbunden, die maßgebliche Auswirkungen auf die Art der Trauer haben. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob es einen plötzlichen, unerwarteten Tod zu betrauern gibt oder es ein altersbedingter, natürlicher Tod ist. Ob es sich um Fremdeinwirkung, Krankheit oder gar Suizid handelt. Gerade die Möglichkeit oder das Fehlen des Abschiednehmens ist für viele ein wesentlicher Einflussfaktor auf die Trauerbewältigung. Auch das Alter zum Zeitpunkt des Todes spielt immer eine Rolle. Hinzu kommt, welchen Part die verstorbene Person für einen oder in der Familie gespielt hat. Auch hier sind die Unterschiede zwischen Eltern, Kind, Partner, bis hin zu Verwandten und dem Freundeskreis bisweilen immens.
Was der Tod bedeutet
Jennifer und Henrik Lind beziehen auch die individuellen Lebensumstände vor und nach dem Tod eines Angehörigen in ihr Trauersprachen-Modell mit ein. Auch das macht Sinn: Welche Änderungen der Lebensumstände bewirkt der Todesfall? Ist man finanziell abgesichert? Wird der Todesfall womöglich zu Erbstreitigkeiten führen? Allein der bürokratische Aufwand hinsichtlich Beisetzung und Erbe ist nicht zu unterschätzen und kann potenziell ebenfalls Sorgen bereiten.
Die eigene Persönlichkeit
Jeder Mensch hat seine eigene Art, mit seinem Leben fertig zu werden und auf geänderte Lebensumstände zu reagieren. Ob es nun freudige Situationen sind oder herzzerreißende. Wir ändern bei Eintritt eines Todesfalls nicht schlagartig unsere Persönlichkeit. Vielmehr fließt diese in unsere Trauerarbeit mit ein und das ist ein ganz individueller Vorgang. Das Resultat: Manche Menschen ziehen sich beim Tod eines Angehörigen zurück, andere suchen aktiv Hilfe, z. B. in Trauergruppen. Manche zeigen ihre Trauer offen, anderen sieht man es kaum an, dass sie jemanden verloren haben. Manche schlagen durch den Trauerfall einen religiösen Weg ein, anderen verlassen ihn usw.
Gegen Kopf und Herz
Niemand will trauern müssen. Aber der Verlust eines Menschen reißt immer eine Lücke, egal wie eng man dem Angehörigen tatsächlich stand. Jennifer und Henrik Lind verstehen Trauer als Entwicklungsprozess, bei dem es auch darum geht, sich selbst zu heilen und diese Lücke zu schließen.
Geht man von diesem Modell aus, erscheint es schwierig, überhaupt jemanden zu finden, der einem mit den passenden Worten Linderung in der Trauer verschaffen kann. Wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Doch genau dort kommt ein Projekt von Jennifer und Hendrik Lind ins Spiel – eine Matching-Plattform genannt TrostHelden. Diese Online-Community bietet die Möglichkeit, zuvor wildfremde Menschen zusammenzuführen und ihnen einen Austausch von Lebens- und Trauergeschichten, Emotionen und Hilfestellungen zu ermöglichen.
Digitale Welt
Wie enorm groß der Bedarf und die Sehnsucht nach Hilfe in Zeiten der Trauer ist, lässt sich laut Henrik Lind ganz einfach bei einem Blick auf die Videoplattform TikTok feststellen: „Bis November 2021 ist der Suchbegriff ‚Trauer‘ bei TikTok 1,5 Mrd. Mal eingegeben worden. Mittlerweile sind es schon 6,0 Mrd. Mal.“ Diese Vervierfachung in etwas über einem Jahr zeige, so Lind, dass viele Menschen in ihrer Trauer nicht allein sein wollen bzw. Unterstützung und Aufmunterung suchen. Selbst wenn es nur Erfahrungsberichte per Kurzvideo sind.
Die Plattform TrostHelden will die Suche nach Hilfe in Zeiten der Trauer vereinfachen. Durch die Auswertung eines digitalen Fragebogens kann die App ermitteln, welche anderen Mitglieder in der individuellen Situation potenziell am besten helfen können. Dieser psychologische Fragebogen ist absichtlich sehr umfangreich gestaltet, damit Menschen zueinanderfinden, die größtmögliches Verständnis für die jeweilige Situation des anderen aufbringen können. Die – und da schließt sich der Kreis – dieselbe oder eine ähnliche Trauersprache sprechen und einander verstehen.
Trostspender
Derzeit sind rund 3600 Menschen mit einem Profil auf TrostHelden.de registriert und helfen einander. Dabei ist das Informieren auf der Plattform zunächst einmal kostenlos. Nach Ausfüllen des Fragebogens zur eigenen Situation präsentiert der Algorithmus passende Profile von TrostHelden-Mitgliedern. Aber nur mit einer eigenen Mitgliedschaft von einem, drei oder sechs Monaten kann man dann mit passenden Trauerfreunden tatsächlich in Kontakt treten. Das geschieht per Chat in einem anonymen, geschützten Raum. Namen, E-Mail-Adressen oder Telefonnummern werden nicht preisgegeben. Im Mitgliederbereich von TrostHelden kann man beliebig viele Trauerfreunde ansprechen und sich unbegrenzt austauschen.
Unterstützt wird das Familienunternehmen von einem Team aus Experten, die allesamt aus der aktiven Trauerarbeit oder der Sozialpädagogik stammen. Damit soll das Angebot stetig erweitert und verbessert werden.
Eine Trauerfreundin oder einen Trauerfreund zu finden, kann auf vielfache Weise heilsam sein. Man kann über konkrete Situationen sprechen oder einfach nur dem Gefühl der Einsamkeit entgegenwirken. Eine außenstehende „fremde“ Person kann zudem einen wertvollen anderen Blickwinkel liefern. Das Erbauliche an der Verknüpfung zweier Menschen, die sich auf einer trauersprachlichen Ebene verstehen, ist die Gegenseitigkeit. Es ist keine Einbahnstraße wie etwa bei einem Therapeuten. Es mag manche Trauernde zudem abschrecken, sich in solchen Therapiesituationen wahrhaftig zu öffnen. Solche Situationen sind mehr analytisch geprägt. Ihnen fehlt die Authentizität, die wiederum eine Trauerfreundschaft liefern kann.
Warum Erkenntnis so wichtig ist
Als soziales Umfeld zu begreifen, dass es Trauersprachen überhaupt gibt, und was das für die Kommunikation mit einem trauernden Menschen bedeutet, ist ein wichtiges Anliegen der TrostHelden-Gründer. So kann sich das Umfeld auf andere, nicht-sprachliche Hilfestellungen konzentrieren und so dennoch etwas sehr Sinnvolles für die Trauerbewältigung tun.
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